Wenn ich nur lesen könnt’

Herr Hartmann von Aue, fiktives Autorenporträt im Codex Manesse, fol. 184v, um 1300

Die neue Lese- und Schreibkultur erfasste im 14. Jahrhundert vor allem das Stadtbürgertum. Adelige Kreise vergnügten sich lieber bei Jagd und Tanz.

Ein Ritter so geleret was
Daz er an den buchen las
Waz er dar an geschriben vant
Der was hartman genannt,
Un was ein diensteman von owe.

Es war einmal ein Ritter, der so gebildet war,
dass er alles, was er in den Büchern geschrieben fand,
lesen konnte.
Er hieß Hartmann
und war Lehnsmann zu Aue.

Ein ungewöhnliches Dokument für adeliges Lesevermögen liefert Hartmann von Aue. 1190 schrieb er im Prolog zum „Armen Heinrich“ diese Zeilen, in denen sich der Autor als gebildeter Ritter auswies, der zumindest lesen konnte. Er betonte damit auch seine eigene Bildung – damit offenbarte er sich als gelehrter und kompetenter Erzähler.

Unkundig ist mir ganz das lesen,
Wie kundig andere das gewesen.

Der Dichter Wolfram von Eschenbach (um 1170 bis um 1220–1237) erwähnte in seinem Werk „Parzival“, nicht lesen zu können. Auch im „Willehalm“ betonte er diese Tatsache: „Ichne kann decheinen bouchstab.“ Es kann davon ausgegangen werden, dass seine Epen mündlich verfasst und tradiert waren.

Herr Hartmann von Aue, fiktives Autorenporträt im Codex Manesse, fol. 184v, um 1300

Lesen und Schreiben waren im Mittelalter zwei Fähigkeiten, die nicht unabdingbar miteinander verknüpft waren und als getrennte Unterrichtsgegenstände gelehrt wurden. Die Lektüre war vorerst für ein kleines Publikum bestimmt – Literatur wurde häufig mündlich vorgetragen. Auch mangelnde Möglichkeiten der Beleuchtung bei Nacht beschränkten das Leseverhalten sowie das Vorlesen.

Lesen diente primär zur Ausbildung des priesterlichen Nachwuchses. Kleriker mussten des Lesens kundig sein – und gut singen können. Schreibfähigkeiten wurden vorerst nicht verlangt. Doch bereits im Verlauf des 14. Jahrhunderts lernte eine wachsende Zahl von Priestern lesen und schreiben. Die Sprache der Kleriker und Gelehrten war Latein.

Bis Mitte des 15. Jahrhunderts waren an der Wiener Universität noch nicht alle Studenten des Schreibens mächtig, obwohl der Unterricht maßgeblich auf der Mitschrift des Vorgetragenen beruhte. Das Wachstum der Städte mit einer zunehmend sozial differenzierten Einwohnerschaft sowie die Zunahme des repräsentativen höfischen Lebens beschleunigten die Lesefertigkeit. Dazu trat die rasante Zunahme von Texten in den jeweiligen Volkssprachen wie etwa die deutschsprachige mittelalterliche Versepik. Schätzungen zufolge konnten im Spätmittelalter zehn bis 30 Prozent der städtischen Bevölkerung lesen und schreiben. Vor allem der Klerus, weite Kreise des Adels sowie Ratsherren und Kaufleute in großen Städten, doch zunehmend auch Handwerker und bäuerliche Schichten beherrschten diese Fähigkeiten.

Adelige Kultur war zunächst mündlich ausgelegt, teils stand man der Schriftkultur sogar ablehnend gegenüber. Nur adelige Frauen oder Adelige, die dem geistlichen Stand beitreten sollten, eigneten sich diese Fähigkeit an. Vermutlich konnte König Rudolf von Habsburg (1218–1291) weder lesen noch schreiben, seine Kinder jedoch erhielten eine sorgfältige Erziehung. Rudolf IV. unterschrieb einige Urkunden bereits eigenhändig. Im 14. Jahrhundert waren dann die Herrschenden meist lese- und schreibkundig.

Julia Teresa Friehs