Kaiser Karl I. und der Zerfall der Monarchie

Hermann C. Kosel: Offizielles Porträt von Karl I. mit Familie, Foto, 1914

Kaiser Karl, Kaiserin Zita und Erzherzog Otto im ungarischen Krönungsornat, historische Fotografie, 1916

Kaiser Franz Joseph verstarb im November 1916 nach einer langen Regentschaft von 68 Jahren. Mitten in der Krisensituation des Ersten Weltkriegs war der Monarchie die Symbolfigur habsburgischer Macht abhanden gekommen. Die  politischen Eliten der Habsburgermonarchie waren wenig vorbereitet auf einen Wechsel. Eine allgemeine Orientierungslosigkeit erfasste weite Teile des öffentlichen Lebens.

Hermann C. Kosel: Offizielles Porträt von Karl I. mit Familie, Foto, 1914

Kaiser Karl, Kaiserin Zita und Erzherzog Otto im ungarischen Krönungsornat, historische Fotografie, 1916

Zur Betonung des dynastisch-monarchischen Prinzips ließ sich Franz Josephs Nachfolger und Großneffe Karl bereits im Dezember 1916 feierlich zum König von Ungarn krönen. Da der Monarch durch den Krönungseid die bestehende Verfassung des Königreiches garantiert hatte, wurde dadurch eine Aufweichung des Dualismus verhindert, und die privilegierte Stellung der Magyaren (neben den Deutschösterreichern) im Vielvölkerstaat bestätigt. Somit war die letzte Chance für eine Umwandlung der Doppelmonarchie in ein stärker föderalistisch geprägtes Staatsgebilde mit einer verstärkten Einbeziehung der slawischen Völker vergeben. Dies wird von Historikern als großer strategischer Fehler Karls gewertet.

Als versöhnliche Maßnahme Karls wurde allgemein die Einberufung des Reichsrates im Mai 1917 gesehen. Somit wurde die Volksvertretung wieder in Funktion gesetzt, nachdem das Parlament der österreichischen Reichshälfte (anders als das ungarische Parlament, das seine Tätigkeit ungehindert fortführte) unmittelbar nach dem Attentat von Sarajewo geschlossen wurde. Der Grund dafür war, dass das Funktionieren des Parlamentes angesichts der nationalen Spannungen nach der Kriegserklärung 1914 nicht gewährleistet war. Die Regierung arbeitete mit dem sogenannten Notparagrafen (§14 der Verfassung von 1867), der die Verabschiedung von Gesetzen ohne Reichsratsbeschluss ermöglichte. Österreich war somit während der ersten Kriegsjahre de facto eine Diktatur.

Nach der dreijährigen Pause blieben viele Plätze im Sitzungssaal leer, was ein deutliches Sinnbild des Wandels war: Einige Abgeordnete waren in der Zwischenzeit verstorben, andere im Krieg gefallen, ohne dass deren Plätze nachbesetzt worden wären. Einige Oppositionspolitiker (wie zum Beispiel der spätere tschechoslowakische Präsident Tomáš G. Masaryk) waren ins Exil gegangen, um einer Verfolgung durch die österreichische Staatsmacht zu entfliehen. Denn etliche Abgeordnete waren wegen „Zersetzung der Staatsmacht“ verurteilt und eingekerkert worden; Der italienische Abgeordnete Cesare Battisti war sogar wegen Hochverrats hingerichtet worden.

Der wieder einberufene Reichsrat wurde nun entgegen der Intentionen des Kaisers zum wichtigsten Schauplatz der Zuspitzung der nationalen Konflikte und des Zerfalls der Monarchie. Die ob der scheinbar unlösbaren Probleme ständig wechselnden Regierungen in Cisleithanien blieben daher ohne Unterstützung des Reichsrates.

Die Lage verschärfte sich im Sommer 1918 nochmals. Die österreichische Offensive am italienischen Kriegsschauplatz endete in einem Fiasko, und die Erschöpfung der militärischen Schlagkraft war nicht mehr zu verheimlichen.

Auch im Hinterland war die Situation instabil und die Versorgungslage katastrophal. Im Oktober 1918 blieben die Verhandlungen der kaiserlichen Regierung mit den Abgeordneten und Vertretern der Nationalitäten erfolgslos. Kaiser Karl veröffentlichte daraufhin am 16. Oktober ein Völkermanifest, worin er die Vertreter der einzelnen Nationalitäten aufrief, Nationalversammlungen zu bilden. Die Absicht des Kaisers war, die österreichische Reichshälfte in einen Bundesstaat mit weitreichenden Autonomien für die nationalen Gruppen umzuwandeln. Dieses verspätete Angebot der Föderalisierung des Habsburgerreiches wurde von den nationalen Volksvertretungen jedoch nicht mehr als Einladung zur Reform der Monarchie wahrgenommen, sondern als Möglichkeit, die eigene Zukunft selbstbestimmt zu gestalten, wobei die Option eines Austritts aus der Monarchie immer realistischer wurde. Karls Manifest beschleunigte somit ungewollt den Zerfall der Staatsmacht der Monarchie.

Martin Mutschlechner