Das Heilige Römische Reich und die göttliche Ordnung der Welt

Die Krone des Heiligen Römischen Reiches

Reichskreuz, um 1024/25; Fuß um 1325

Fiktives Porträt Karls des Großen, Gemälde (Kopie des Originals von Albrecht Dürer), um 1600

Das Kaisertum des Heiligen Römischen Reiches war die höchste weltliche Würde des Abendlandes seit seiner legendenumwobenen Gründung durch Karl den Großen. Das weltumspannende Römische Imperium der Antike sollte darin wieder auferstehen. In der Realität war das Reich jedoch weit davon entfernt, dem mittelalterlichen Ideal eines universellen Reiches der lateinischen Christenheit zu entsprechen.

Wir Franz der Zweyte, von Gottes Gnaden erwählter römischer Kaiser, zu allen Zeiten Mehrer des Reichs, Erbkaiser von Oesterreich, etc.

Titelformular des letzten Kaisers des Heiligen Römischen Reiches auf der Erklärung der Niederlegung der Kaiserkrone am 6. August 1806.

Die Krone des Heiligen Römischen Reiches

Reichskreuz, um 1024/25; Fuß um 1325

Fiktives Porträt Karls des Großen, Gemälde (Kopie des Originals von Albrecht Dürer), um 1600

Das Heilige Römische Reich besaß einen stark religiös aufgeladenen Symbolgehalt: Das antike Imperium Romanum, in dem Jesus Christus geboren wurde und die christliche Heilslehre entstanden war, ist von den biblischen Propheten als das letzte der Weltreiche bezeichnet worden, bevor die endzeitliche Wiederkehr Christi zu erwarten war. Darin liegt der Grund für die Wiederbelebung des Imperiums ("renovatio imperii") im Frühmittelalter.

Die Heiligkeit des Reiches war in seinen Symbolen und Insignien gegenwärtig: Das Reichskreuz und die Heilige Lanze, beides Reliquien mit direktem Bezug zur christlichen Heilsgeschichte, verkörperten die Idee des Reiches genauso wie die weltlichen Herrschaftszeichen Krone, Reichsapfel, Szepter und Reichsschwert. All dies verstärkte den Gedanken vom göttlichen Ursprung der kaiserlichen Autorität. Der Aufbau des Reiches war ein Abbild des mittelalterlichen Ideals von der gottgewollten Ordnung der Welt in einer strengen Hierarchie mit dem Kaiser an der Spitze.

Die Idee des Kaisertums wurde um die Jahrtausendwende unter der Dynastie der Ottonen erneuert ("translatio imperii"): Bei der Krönung Otto des Großen im Jahre 962 scheint die Bezeichnung "Heiliges Römisches Reich" als Zeichen der Kontinuität erstmals auf. Einen Höhepunkt erlangte die Bedeutung des Kaisertums unter der Dynastie der Staufer. Als die Habsburger mit Rudolf I. Ende des 13. Jahrhunderts erstmals die Krone des Reiches erlangen konnten, war die Idee des universalen Kaisertums über die gesamte Christenheit in der Realität jedoch bereits gescheitert. Das Reich beschränkte sich auf Mitteleuropa mit Schwerpunkt auf den deutschsprachigen Ländern – unbeschadet der Tatsache, dass sich auch anderssprachige Territorien zum Reich zählten.

Der Herrscher wurde von den Großen dieses Reiches gewählt und führte den Titel eines deutschen Königs. Um den Titel eines Kaisers von Gottes Gnaden zu erlangen, der den Träger zum unanfechtbaren Oberhaupt des Reiches machte, waren im Mittelalter die Krönung und Segnung durch den Papst erforderlich. Der Anwärter musste nach Rom ziehen, um in antiker Tradition der Imperatoren zumindest symbolisch die Autorität über Italien und die Stadt Rom nachweisen zu können. Dies war ein aufwändiges und politisch heikles Unterfangen, da sich Norditalien zunehmend aus dem Reich heraus entwickelte.

Friedrich III., der 1452 den Zug nach Rom wagte, war der einzige Habsburger, dem das gelang, und zugleich der letzte Kaiser in der mittelalterlichen Tradition: Sein Sohn und  Nachfolger, Maximilian I. verzichtete auf eine Krönung durch den Papst und führte 1508 den Titel eines "erwählten Kaisers" ein. Karl V. ließ sich zwar 1530 noch vom Papst krönen, jedoch nicht in Rom, sondern in Bologna.

Das Ideal der unumschränkten Autorität des Kaisers über das Reich war an der Schwelle zur Neuzeit längst Fiktion. Es kam zu einer zunehmenden Aushöhlung der Reichsidee durch die Glaubensspaltung und die politische Desintegration des Reiches, an der auch der letzte Versuch der Errichtung einer kaiserlichen Universalmonarchie durch Karl V. scheiterte. Die Habsburger hielten trotz aller realpolitischen Zugeständnisse dennoch am Grundgedanken des Kaisertums fest. Dies war für das Selbstverständnis der Dynastie enorm wichtig, da die Habsburger fest von der legitimierenden Kraft des Gottesgnadentums überzeugt waren. Von 1452 bis zum Ende des Reiches hatten (mit der Ausnahme der Jahre 1740 – 1745) durchwegs Habsburger die Kaiserwürde inne. Das zunehmend als Anachronismus wahrgenommene Reich wurde schließlich 1806 durch Kaiser Franz II. angesichts der Neuordnung Europas durch Napoleon für erloschen erklärt.

Martin Mutschlechner